Nocte Obducta Irrlicht (Es schlägt dem Mond ein kaltes Herz) 1. Zurück im bizarren Theater Nur herein, hereinspaziert Derweil es draußen schneit und friert Wird heut’ ein Stück hier aufgeführt Das zweifelsfrei das Herz berührt Verblichene Poeten schrieben Dramen im Delirium Berauscht von vielen Weinen und den Nebeln ihrer Liebe Unglücklich, doch voller Lust und voller Wein und Opium Was, wenn der Tod mit ihrem Federkiel die Stücke schriebe Auf den dunklen Bühnenbrettern, seht, stolzieren schwarze Raben Und der Darsteller des Königs wankt in grobem Missgeschick Rudert mit den Armen und stürzt plump in den Orchestergraben Celli übertönen aufgeschreckt das brechende Genick Romantik alter Burgruinen Wie befreit von Raum und Zeit In dieser Nacht ein junges Glück Im Bann der trauten Zweisamkeit Genieße diese Nacht, mein Freund Und als ins Publikum er sah Verstand er nicht, ob’s in den Blicken Eintracht oder Argwohn war Es stürzten die Ruinenmauern Teilnahmslos, gelangweilt, bleich Schien schal der Mond aufs Trümmerfeld Ein altes Grab für junges Fleisch Verehrtes Publikum Andächtig hebt die Kristallgläser Und trinkt auf den Tod eines Clowns Und anonyme Liebende sinken seufzend in die Disteln Irgendwo im Nachspiel Irgendwo im Abspann 2. Von Stürzen in Mondmeere Mare Serenitatis Das Land des Lachens lockt die Liebenden Der Kuss des Morgensterns weckt wohlig warme Wünsche Das süße Sehnen schmeichelt einem hoffnungsfrohen, kleinen Kind, das ohne Augenlicht die Himmel sieht Die Frucht aus Fleisch verheißt dem Narren Glück Der Duft der Zärtlichkeit zerstreut die zahmen Zweifel Der blinde Bittsteller bestaunt die Schönheit, die am Himmel majestätisch bleich erhab’ne Bahnen zieht Mare Frigoris Nicht jeder Tod beginnt mit Sterben Nicht jede Hoffnung schwindet sanft Es wirft das Ende seine Schatten nicht voraus, wenn gnadenlos und hoch der volle Mond am Himmel steht Nicht jedes Wagnis birgt ein Scheitern Nicht jedes Scheitern bringt den Tod Doch jeder Tod verhöhnt das Wagnis, wenn das Ende unversehens mit dem Frost vom eis’gen Mond her weht Mare Crisium Es sind die tiefen Seen, die tiefen Augen, die uns locken Dort im edlen, eb’nen Antlitz einer Hoffnung, die uns nährt Es ist die warme Haut, die unter unsren schwachen Händen bebt Das Fieber, das ein Land formt, in dem Glück auf ewig währt Es sind die kalten Wasser dieser Meere, die uns lähmen Dort über lichtlosen Tiefen, trügerisch umspielt von Schaum Und dann ein jähes Sinken, ungeseh’n und bald vergessen Das Fieber ist die Wahrheit und das Land ein Traum – nichts weiter als ein Traum 3. Rot und Grau Ich schlucke blutiges Brot Es quillt der rote Saft aus Teig und aufgeplatzten Lippen Rinnt warm den mageren Arm hinab Und tropft von aufgeschürften Ellenbogen Hinunter auf schmutzige Dielen So dass es klingt wie müder Regen in dickflüssigen Pfützen Manchmal ist ein Klumpen Blut geronnen Ein jeder Bissen knackt und knirscht wie Knochen junger Vögel Mein Herz zuckt auf einem verdreckten Teller Auf einem morschen Tisch Und in meine offene Brust tropft Salz von meinen roten Augen Ich breche einsam Brot – Wundgrind, Gift und mürber Teig Schlaflos schon seit Monden Ein Heim, in dem kein Gast mehr weilt Und draußen hinter ihres Augenlichts beraubten Fenstern Würgt die Leere hinter Wegen, die verheert, ungangbar sind Die schweren, grauen Nebel, die tilgen, was sich nicht bewegt Geröllbedeckte Hänge hinab Wo Angst um einen Ausweg fleht Bevor das Nichts in meine Kammern zieht Wo man nicht einmal meinen Schatten sieht Der sich verliert im zähen Dunst 4. Der Greis und die Reiterin Einst fragte ich in tiefer Nacht den alten Mann Der mir aus dem Schwarz der Spiegel stumm entgegenblickte Was raubt dir Schlaf und Seele, raubt dein Morgenrot? Und er sah mich an und lächelte nur kurz, als trüb er nickte Es ist die Angst vor Taubheit und doch die Angst vor lieblichem Gesang Der dich taub macht für den Klang der Hufe eines bleichen Pferds Es war damals im fünften Mond Von tausend Schlachten ausgeblutet und verheert war das Land Als sie im Lichtkranz neuen Lebens dort am Horizont stand Das Unheil kam als Königin am Ende eines Krieges Verderbnis, die in süßen Liedern um mein Herz sich schloss Ihr Licht durchflutete das Land mit trügerischem Frieden Und vor den Toren thronte sie auf einem fahlen Ross 5. Der alte Traum Als ich in den Abgrund sah, dem eben ich entstiegen Dort zu meiner Rechten Ein stummes, zähes Schattenmeer Da wollte ich schon friedvoll seufzen Blicken auf die Wiesen, auf die Felder, auf das Land Doch sah zu meiner Linken dann So plötzlich, kalt und unerbittlich Einem schroffen Mahnmal gleich die nächste steile Felsenwand Und irgendwo darüber erst Wie ein Leuchtturm eines fernen Ufers Irgendwo darüber erst Den letzten Rest der Sonne Was ist ein Pfad, der nur nach oben führen kann Wenn er so steil ist, dass der müde Fuß verzweifeln muss Wenn er nur gen Himmel strebt, weil jeder verfluchte andere Weg Ein blinder Tanz am Abgrund ist Ein bodenloses Bangen um den alten Traum von der Geborgenheit Die Bürde geht, die Schwere bleibt Und wenn das alte Herz auch lebt So schlägt es nur von Zeit zu Zeit In einem schalen Missklang Der sein Blut vergessen hat Hässlich wie der Tag in einer grauen und kinderlosen Stadt 6. Bei den Ruinen Die Brücken geborsten Die Stadt in Trümmern Es säumen die breite Straße in ihr ausgebranntes Herz Kolossale, spröde, mitleidige Skulpturen In steinernen Augen einen bleiernen Schmerz Die Schönheit in Scherben Verderbt die Alleen Auf dem Fluss, der den Anfang von Großem sah, treiben die kindlichen Leichen Vergangener Tage Verlorener Wege Verratener Pläne Verworfener Bilder Verwitterter Zeichen Es winken bleiche Hände mich hin zu einem Ende Es soll beginnen bei den Ruinen Die fahle Schönheit in den Nebelschwaden Am Rande der Ruinenstadt hinter den Nekropolen Sie mag ein Trugbild sein Doch wenn nur noch das Irrlicht bleibt als einz’ger Schein Dann soll der Tod mich holen Denn jeder stirbt allein Doch wenn da Gnade ist Hinter unseren kollabierten Städten Dann soll mein banges Herz, das weiterzieht, mich retten Es bersten weiter Brücken hinter mir 7. Noch Der Blick in warmes Morgenrot Blutjunge Knospen, die wie grüner Nebel Bäume kleiden Das alles ist vertan, verlor’n Die Sonne blind Es lahmt der Wind Die grünen Nebel sind erfror’n Der Blick auf Äcker, satt und weit Die ersten Vögel, die die Welt, die vor uns liegt, begrüßen Mit einem Mal kein Singen mehr Der Morgen stumm Die Äste krumm Von kalten Vogelleibern schwer Der Blick auf Ufer sanft und reich Handwarmes Salz, das Spuren lenkt im Sand neuer Gestade Das alles war ein kühner Traum Das Neuland bricht Der Schein erlischt Den Puls des Lebens stört es kaum Weil dieser Puls, weil jedes Jahr Nichts weiter als nur Glaube war Doch Glaube ohne Morgenrot ist weiter nichts als Hoffen Und wen, das fragt das müde Herz Und wen soll das noch kümmern …